EINFÜHRUNG VON MARLIS MUCTAR:
„Der wahrhaft ungewöhnliche Mensch
ist der wahrhaft gewöhnliche Mensch“ oder das „Allgemeine und das
Besondere“
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Familie,
ich begrüße alle sehr herzlich zur Eröffnung der neuen Galerie am
Rhein und damit zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken der
Krefelder Künstlerin Käthe Ricken.
Käthe Ricken ist vielen von Ihnen ja bekannt, zu Lebzeiten gab es
zahlreiche Ausstellungen, ihre Bilder hängen verstreut in der ganzen
Welt, in Deutschland, im europäischen Ausland, in Asien und in
Amerika.
Käthe Ricken wurde 1917 hier in Köln als Käthe Ortmann geboren.
1917- man halte die Jahreszahl einen Moment lang fest. Denn die Welt
sah wahrhaftig anders aus, damals, vor nun doch schon fast einem
Jahrhundert.
Der 1. Weltkrieg tobt draußen auf den Schlachtfeldern, die
bürgerliche Gesellschaft klammert sich an strenge und enge Normen
und Werte. Die gelten in besonderem Maße für die Frauen. Erst 1919
erhalten die Frauen das Wahlrecht, immerhin, aber Begriffe wie
Emanzipation oder gar Selbstverwirklichung sind noch Lichtjahre
entfernt.
Die fünf Kinder der Familie Ortmann erhalten eine strenge Erziehung:
Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Gottesfürchtigkeit, die
Meßlatte der Moralbegriffe ist hoch angesetzt.
Der Vater ist Finanzbeamter, staubtrocken klingt das, aber es gibt
noch eine andere Seite: Der Vater ist künstlerisch interessiert, er
zieht mit den Kindern durch die Museen, er ist selbst begabter
Hobbymaler!
Überhaupt gibt es in der Familie Literaten, Maler, Grafiker, eine
Opernsängerin. Künstler eben, fast anrüchig in der damaligen Zeit.
In
diesem Klima voller Widersprüche, hier bürgerliche Enge, da
schöpferische Weite, wächst Käthe Ricken auf, sie prägen ihre
Persönlichkeit und ihre Kunst.
Aber: sie darf Kunst studieren, zunächst in Krefeld, später in
Hamburg, sie ist Meisterschülerin.
Mit 25 heiratet sie in die Krefelder Fabrikantenfamilie Ricken. Eine
gelernte Künstlerin trifft auch hier auf Vorbehalte.
Schwere Jahre folgen. Der 2. Weltkrieg bringt Not, Tod, Vernichtung,
Hunger, Angst.
Angst um den Ehemann an der Front, Angst in durchzitterten Nächten
mit den kleinen Kindern im Luftschutzkeller.
Käthe Rickens Erinnerungen an die todbringenden Bombenangriffe auf
Hamburg sind später im englischsprachigen Raum veröffentlicht
worden.
Wir alle kennen die Geschehnisse aus Filmen, wir haben Fotos
gesehen, Zeitzeugen gehört. Aber was passiert in einem Menschen, der
das alles selbst erlebt?!
Über viele Jahre malt Käthe Ricken kaum einmal. Sie hat fünf Kinder,
widmet sich ganz den Aufgaben in der Familie. Erst als das jüngste
Kind zehn Jahre alt ist, greift sie wieder regelmäßig zu Pinsel und
Farbe.
Dieses jüngste Kind bin ich, und ich bekenne, dass ich als
Zehnjährige die Kunst meiner Mutter gehasst habe, entzog sie mir
doch Aufmerksamkeit, die ich meinte, für mich beanspruchen zu
dürfen. Kinder sind egoistisch!
Hier wird deutlich, dass die Künstlerin Käthe Ricken immer noch
nicht frei war. Auch nach einer –heute würde man sagen- Babypause
von zwanzig Jahren bleibt sie aufgerieben zwischen Pflichterfüllung
in der Familie und dem Wunsch nach Verwirklichung ihrer
künstlerischen Ideen.
Sie hat oft gesagt, dass sie ihren schöpferischen Schaffensdrang als
eine Art Krankheit empfände, von der sie lieber nicht befallen wäre,
denn dann wäre ihr Leben wohl leichter.
Käthe Ricken malt zunächst noch akademisch, sie hat ihr Handwerk
meisterhaft gelernt. Doch mehr und mehr löst sie sich, ihre Bilder
zeigen eine breite Palette. Wir finden Elemente der verschiedensten
Richtungen kombiniert, von der lässigen Bleistiftskizze und
schmückenden Ornamenten bis zu Kubismus und Konstruktivismus.
So entsteht ein ganz eigener Stil, der ihre Werke unverwechselbar
macht.
Ihre Bilder sind voller Schwermut und Melancholie oder auch von
schwebender Poesie. Sie sind voll warmherziger Ironie auf
menschliche Schwächen oder gespickt mit bissigen Seitenhieben gegen
Spießertum und Kleingeist. Sie waren der Künstlerin ein Gräuel!
Herrlich hintersinnig ist ihr Humor:
„Dinner for two“, der Tisch ist feierlich gedeckt, edles Porzellan
auf feinstem Tuch. Erst bei genauer Betrachtung fällt auf, dass ein
Dessertlöffel fehlt. Welch augenzwinkernde Boshaftigkeit! Da soll
doch jemandem der süße Nachtisch verwehrt bleiben! Die ganze
Geschichte dazu bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen!
Manche Bilder schließlich zeugen auch von der Sehnsucht nach einer
heilen Welt...
Es
sind die Erfahrungen ihres Lebens, die in der Kunst ihren Ausdruck
finden: Rigide Erziehung, Kriegserfahrungen und der ganz normale
Wahnsinn eines Frauenlebens zwischen Familie und Berufung.
Weitere Ausstellungen in der Galerie am Rhein werden die
verschiedenen Aspekte in Käthe Rickens umfangreichen Werk immer
deutlicher machen.
In
der aktuellen Ausstellung sehen wir Bilder aus dem Spätwerk. Das
Titelbild der Ausstellung heißt:“ Das Besondere und das Allgemeine
nach Kierkegaard“.
Wir sehen zwei auf die Spitze gestellte Quadrate, weitgehend
eingefasst in einen sie verbindenden Kreis. Die beiden Quadrate
berühren einander, die Farben sind gleich, wenn auch in den beiden
Quadraten unterschiedlich angeordnet.
Welches Quadrat ist das Besondere, welches das Allgemeine? Wofür
stehen Kreis und Quadrat?
Für den dänischen Existenzphilosophen des 19. Jahrhunderts, Sören
Kierkegaard, ist Angst das zentrale menschliche Erlebnis. Angst
offenbart die Zerrissenheit und Sinnlosigkeit des Seins. Bei Jean
Paul Sartre finden wir später das Bild vom Menschen, der am Abgrund
steht und in der dunklen Tiefe sich selber sucht.
Der Mensch befreit sich von Angst und Sinnlosigkeit mittels der
Entscheidung. Kierkegaard, in seiner Schrift „Entweder- Oder“ von
1843 und später dann die Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts
wie Jaspers, Heidegger, Sartre sprechen vom „ Sprung“ der
Entscheidung.
Hier wird die ganze Ungeheuerlichkeit der Entscheidung deutlich, da
der Blick in die Tiefe und dann der Sprung, das Wagnis der
Entscheidung!
Wer sein Leben so annimmt, wird frei.
Der Mensch erschafft sich im Moment der Entscheidung gewissermaßen
selbst, sagt Kierkegaard. Er wird im Moment der Entscheidung von
diesem einen besonderen Individuum zum allgemeinen Menschen und doch
bleibt er zugleich das eine unverwechselbare Individuum. Hat der
Mensch zunächst nach seinen Möglichkeiten gesucht- man würde heute
sagen, er hat nach dem Lustprinzip gelebt- so sucht er jetzt, nach
der Entscheidung, auf einer ethisch höheren Daseinsstufe nach seinen
Aufgaben.
„Der wahrhaft ungewöhnliche Mensch“, sagt Kierkegaard, „ist der
wahrhaft gewöhnliche Mensch. Je mehr ein Mensch in seinem Leben das
Allgemein- Menschliche realisieren kann, umso ungewöhnlicher ist er.
Je weniger er das Allgemeine in sich aufnehmen kann, umso
unvollkommener ist er. “
Martin Heidegger drückt es hundert Jahre später so aus: Der Mensch
ist zunächst geworfen in seine Existenz, mittels der Entscheidung
dann wird der Mensch vom Seienden zum Sein.
Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen, immer wieder steht der
Mensch in der Entscheidung.
So
mag hier im Bild der Kreis für die Gesamtpersönlichkeit stehen, die
beide Seiten in sich trägt und sich immer wieder aufs Neue für das
Besondere oder das Allgemein- Menschliche entscheiden muss. Die
Berührung der beiden Quadrate deutet möglicherweise den Moment der
Entscheidung an.
Käthe Ricken hat äußerlich angepasst gelebt, wir dürfen mutmaßen,
dass sie im Sinne von Kierkegaard ihre Verpflichtungen angenommen
und ernstgenommen hat.
Wer sie kannte weiß aber auch, dass hinter der ruhigen Fassade ein
Vulkan brodelte. So war sie jederzeit bereit, für ihre ethischen
Überzeugungen auf die Barrikaden zu gehen.
Im
Alter nun drängt dieser Vulkan immer stärker zum Ausbruch.
Die Bilder der späten Jahre, wie wir sie hier sehen, sind meist
reduziert auf geometrische Formen. Die Farben werden aggressiver,
das lange Jahre vorherrschende Blau weicht leuchtendem Rot, Orange
und sogar schrillem Pink.
„Selbst im Glashaus“, wer im Glashaus sitzt, muss stillhalten, sonst
gibt es Scherben. Und dann kommt er doch, der „Ausbruch zur
Freiheit“, „Überwältigendes Vorbild“, „ Im Strudel der
Entwicklungsphasen“, „Unliebsame Erinnerung“, in den Titeln ihrer
Bilder sprechen nun ihre inneren Kämpfe und Schmerzen eine
deutliche, direkte Sprache.
Ein paar emsige, freierwerdende Schaffensjahre sind ihr noch
vergönnt. –
Käthe Ricken ist vor einem Jahr gestorben.
Die zwei letzten Jahre ihres Lebens war sie ans Bett gefesselt, in
ihrem kleinen Atelier, umringt von ihren Bildern. Mit ihnen hat sie
sich von ihrem Krankenlager aus pausenlos beschäftigt, sie wolle sie
alle verbessern, sagte sie unter Mühen.
Wozu ein großer schöpferischer Geist in einem dahinsiechenden Körper
noch fähig gewesen wäre, zu welchen Farben die Künstlerin jetzt
gegriffen hätte und was ihre Aussage gewesen wäre, darüber können
heute nur spekulieren.
Ich wünsche Ihnen einen interessanten Rundgang durch die Ausstellung
auf der Suche nach dem „Besonderen“ und dem „Allgemeinen“.
Marlis Muctar zum 17.12.2006